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ZUSAMMEN. 30 Jahre Wiedervereinigung aus künstlerischer Perspektive: Ein Blick durch viele Augen

Eine junge Künstlerin fährt mit dem Fahrrad über die Grenzgänge in Berlin. Sie filmt die vorbeiziehende Umgebung mit einer Super-8-Kamera – die verwackelten Schwarz-Weiß-Bilder zeigen Grenzbeamte, die lächelnd zur Seite treten und Schlagbäume öffnen, Passantinnen und Passanten, die zwischen den Sektoren flanieren. Das Land ist nicht mehr geteilt und noch nicht wiedervereinigt.
Das hinter Gerüsten verschwindende Brandenburger Tor taucht im Blickfeld auf, ein Bauzaunbanner der „Denkmalpflege Berlin/DDR“, daneben eines des westdeutschen Unternehmens Kärcher.

An Orten, die noch kurze Zeit zuvor von stundenlangem Warten, Befragungen und Abweisungen geprägt waren, ist nun Bewegung, eine gelöste, freudige Atmosphäre. Euphorie ist zu spüren. Noch finden bei Sektorenwechsel Ausweiskontrollen statt; für die Aufnahmen, die 1990 entstanden, hinterlegte die Künstlerin Nina Fischer (*1965, Emden) ihren Pass bei den Beamten, um so die Erlaubnis zu erhalten, die Übergänge ohne Kontrolle zu passieren. Die Elemente der Grenz-Infrastruktur – die Absperrungen, Grenzposten und Sektorenschilder – sind noch vorhanden, markieren jedoch in ihrer Überflüssigkeit einen historischen Moment, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einmalige Weise ineinander übergehen.

Die Bewegtbilder sind Momentaufnahmen einer sich gerade etablierenden Normalität, die noch zu frisch ist, um so genannt werden zu können. So wie die Grenzposten offen sind, so scheint auch die Zukunft alle Möglichkeiten offen zu halten.
So beschwingt eröffnet Nina Fischers Video Grenzfilme (1990) die Ausstellung Zusammen, die artmagazine-Autorin Sylvia Metz und Elke Neumann anlässlich des 30. Jubiläums der Wiedervereinigung für die Studiogalerie im Haus am Lützowplatz kuratiert haben.

Zusammen stellt Positionen von acht Künstlerinnen und Künstlern aus Ost und West und aus verschiedenen Generationen einander gegenüber und erzeugt durch die Wahl der Arbeiten und durch ihre Dramaturgie ein spannungsreiches Miteinander, ein Zusammen-Sein, unterschiedlichster Perspektiven, Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit der Wiedervereinigung.

Die freudige Atmosphäre der Grenzfilme wird in der gegenüber installierten Arbeit Bis auf weitere gute Zusammenarbeit (1993) der Künstlerin Cornelia Schleime (*1953, Ost-Berlin) nur scheinbar fortgesetzt. Zu sehen sind insgesamt 15, jeweils als Zweierpaare an die Wand projizierte Dokumente: Kopien offizieller Überwachungsprotokolle, denen die Künstlerin eigene Fotografien hinzufügte. Die Schriftstücke stammen aus den Stasi-Akten der Künstlerin und offenbaren das Ausmaß ihrer Überwachung durch die Staatssicherheit. So heißt es in einem Dokument vom 20. Januar 1983 (Betreff »Information zum Ausreiseantrag von Cornelia Schleime«, »Quelle: IMB „Fritz Müller“«): „Sie war nach der Ablehnung von der Abteilung Inneres sehr schockiert, war tagelang bis zum Treffen mit Korbach in der CSSR sehr depressiv und brach sofort in Tränen aus, wenn irgend etwas war. Sie hatte sich wahrscheinlich in den Kopf gesetzt, daß es mit ihrer Ausreise sehr schnell gehen würde. (…) Sie ist von mehreren Seiten aufgefordert worden, keine Panikstimmung zu machen und sich ruhig zu verhalten und sich weiter zu bemühen, nach WB zu kommen.“

Diese Fremd-Umschreibung ihrer selbst kommentiert Schleime mit einer Farbfotografie, auf der sie in einem Bett liegt, den Blick an die Decke gerichtet, ihr Körper verschwindet unter einer voluminösen Satin-Bettdecke.
Auf einem weiteren Bild karikiert sie die vermeintliche „Selbstisolierung“, die sie sich laut Ermittlungsbericht vom 29.01.1984 selbst auferlegt hat: Auf einem schneebedeckten Flachdach hat sie sich ein Wohnzimmer eingerichtet, ganz in Weiß gekleidet sitzt sie auf einem der Stühle, unter dem Tisch ein paar herrenlose Schuhe.

Das Lachen dient in dieser Serie der Krisenbewältigung: Schleime, die 1975 ihr Kunststudium in Dresden begann, gründete mit Freunden die Punkband „Zwitschermaschine“ und widersetzte sich in ihren Arbeiten der offiziellen Kunstdoktrin der DDR. Sie wurde mit einem Ausstellungsverbot belegt und stellte in der Folge vier erfolglose Ausreiseanträge. 1984 konnte Schleime mit ihrem kleinen Sohn nach West-Berlin übersiedeln, musste jedoch nahezu ihr gesamtes Frühwerk zurücklassen. Es ist bis heute verschollen. Nach der Wende erfuhr die Künstlerin, dass ihr früherer Bandkollege Sascha Anderson sie als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi bespitzelt hatte. Es habe sich beim Lesen der Akten so angefühlt, als habe man ihr die Vergangenheit gestohlen, so die Künstlerin. Die inszenierten Selbstporträts sind als Strategie der Rückgewinnung ihrer eigenen Geschichte lesbar.

Im selben Raum erinnert Asta Grötings (*1961, Herford) Arbeit Naturkundemuseum (2016) an die Narben einer Stadt, die die Geschichte hinterlässt und die trotz dem Voranschreiten der Zeit und trotz städtischer Renovierungen und Erneuerungen präsent bleiben. Und David Polzin (*1982, Henningsdorf) verweist in Marken, Zeichen, Signete aus der Postimperialen Phase Deutschlands (2015) an das Potenzial, das fantasierten Realitäten innewohnen kann.

Im mittleren der drei Ausstellungsräume fangen Sibylle Bergemann (*1941, Ost-Berlin, †2010 bei Gransee) und Ulrich Weichert (*1949, Tübingen) in ihren Fotografien die Zeit unmittelbar nach dem Mauerfall ein. In Weicherts Polizisten aus Ost- und West-Berlin am Brandenburger Tor, Mai 1990 kehrt ein Detail wieder, das auch in Nina Fischers Grenzfilm zu beobachten war: das hinter einem Gerüst verschwindende Brandenburger Tor. Auf Höhe der Quadriga ist das Werbebanner des baden-württembergischen Gerüstbau-Unternehmens Layher angebracht. Im Fokus der Aufnahme steht die Begegnung der Ost-Berliner mit einem West-Berliner Kollegen, die plaudernd am Grenzzaun lehnen – doch der Blick auf das Brandenburger Tor mit dem Banner des westdeutschen Unternehmens im Hintergrund öffnet ein gedankliches Fass und verleiht dem Bild ein „Gschmäckle“.

Im letzten Raum gewährt Tobias Zielony (*1973, Wuppertal) mit seinen Aufnahmen der Serie Das was euch am Leben hält, ist was bei uns zu Asche zerfiel (1997-2005) einen Einblick in die jugendliche Lebenswirklichkeit im wiedervereinigten Deutschland um die Jahrtausendwende.

Den Abschluss der Ausstellung bildet Norbert Biskys (*1970, Leipzig) Gemälde Doppeldenk (2019): Vor dem Hintergrund der Türme des Frankfurter Tors sind zwei junge Frauen zu sehen, die sich wie Zwillinge ähneln und auf spielerische Art miteinander kämpfen. Über den Türmen wölbt sich ein in dunkles Lila gefärbter Himmel, der an einen Gewitterhimmel erinnert. Bisky setzt sich in seiner Malerei mit der Zerrissenheit, dem Ringen und dem konfliktbeladenen deutsch-deutschen Miteinander auseinander. Der Titel Doppeldenk ist George Orwells dystopischem Roman 1984 entnommen, wo der Terminus als unmittelbare Manipulation des Denkens auftaucht: Er umschreibt die Wahrheit als austauschbar, als Stellschraube, an der je nach Belieben der jeweils Herrschenden gedreht werden kann.

Es bleibt der Betrachtenden und dem Betrachtenden überlassen, in welcher Stimmung die Ausstellung verlassen wird: mit dem unguten Gefühl, das Doppeldenk hinterlässt oder mit dem euphorischen, das die am Ein- und Ausgang installierte Arbeit Grenzfilme hervorruft - oder ob nicht vielmehr beides zusammen die Realität am ehesten trifft.

Mehr Texte von Ferial Nadja Karrasch

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ZUSAMMEN. 30 Jahre Wiedervereinigung aus künstlerischer Perspektive
03.10 - 29.11.2020

Haus am Lützowplatz
10785 Berlin, Lützowplatz 9
Tel: +49 0 30 261 38 05, Fax: +49 0 30 264 47 13
Email: office@hal-berlin.de
https://www.hal-berlin.de/
Öffnungszeiten: Di - So: 11 - 18 Uhr


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