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Timm Ulrichs - Ich, Gott & die Welt |100 Tage – 100 Werke – 100 Autoren: Über Stolpersteine und Eckensteher

Eine Ausstellung der anderen Art. Für einen Künstler ganz eigener Art. So könnte man vielleicht am ehesten die Retrospektive fassen, die das Haus am Lützowplatz in Berlin dem Jubilar Timm Ulrichs, der im heurigen März seinen achtzigsten Geburtstag begangen hat, ausrichtet. Und dieses Besondere kündigt sich ja bereits auch im Titel „Timm Ulrichs. Ich, Gott & die Welt“ an, der einen jäh stutzen lässt, scheint darin doch eine himmelschreiende Hybris zum Ausdruck kommen zu wollen, die sich nicht nur über rhetorische Konventionen hinwegsetzt, sondern auch – und vor allem – den Künstler vor, d.h. natürlich über seinen Schöpfer stellt; eine Sichtweise, der man sich übrigens auch ganz offiziell im Hannoveraner Sprengel Museum angeschlossen hat, als man dort vor zehn Jahren exakt diesen Titel als zu „blasphemisch“ für eine Retrospektive anlässlich von Ulrichs Siebzigstem verworfen hat. Dabei nimmt diese riskante Wendung – deren potentielle Provokation auch heute noch durchaus leicht verfangen kann – keine Wertung vor, sondern formuliert eigentlich nur den universalen Anspruch des selbsternannten „Totalkünstlers“ Ulrichs, der, seit er 1959 die „Werbezentrale für Totalkunst, Banalismus und Extemporismus“ gründete, jede seiner Lebensäußerungen a priori zur Kunst und damit sich selbst gewissermaßen zum Readymade erklärt, und beschreibt letztlich so etwas wie einen modus operandi. Denn natürlich war sich Ulrichs, der getrost als radikaler Subjektivist bezeichnet werden darf, von Anfang an bewusst, dass nur er selbst zum Medium der Welterfahrung taugt, weshalb er sich, wenn er sich mit dieser Welt auseinandersetzen, sich ihr auch aussetzen (zum Beispiel einem Messerwerfer) wollte, immer auch selbst in den Blick zu nehmen hatte: Schließlich muss, wer der Welt auf die Schliche kommen will, auch die Eigentlichkeit erkunden, etwa die eigene Schmerzempfindlichkeit (wenn man sich eine Tätowierung, eine Zielscheibe direkt über dem Herzen, von unbeholfener Hand mehr reißen als stechen lässt) oder die eigene Todessehnsucht (wenn man unter einem Himmel in Gewitterstimmung nackt, aber dafür mit einer meterlangen Eisenstange bewehrt über ein Feld stakst).

Timm Ulrichs streift also überwachen Sinnes, doch – getreu dem Motto Picassos, nicht zu suchen, sondern zu finden – absichtslos umher, bis er auf etwas stößt oder sich an etwas stößt, was den Fluss seines beschaulichen Lebens stört – ein Stolperstein. Und den es dann freilich aus dem Weg zu räumen gilt, indem man ihn entweder zu ziselieren, d.h. mit einem Warnhinweis zu versehen sucht oder – die ungleich brachialere Methode – auf der Stelle zu zersetzen trachtet. Ersterem Verfahren begegnet man meist, wenn Ulrichs die Sprache beim Wort nimmt und die in ihr eingebetteten Ambiguitäten, Tautologien & Paradoxien ans Licht bringt, was im Kalauer der Konkreten Poesie münden („Am Anfang war das Wort Am“, 1962) oder aber auch wirklich Erhellendes, etwa zur Repräsentationskritik, zutage fördern kann („A rose is a rose is a rose is a rose – Homage to Gertrud Stein“, 1972); während man auf zweiteres Verfahren vor allem dann trifft, wenn Ulrichs gegen seinen Lieblingsfeind, den Kunstbetrieb, zu Felde zieht, den er mit einer Art Hassliebe zu verfolgen pflegt. Denn zweifelsohne möchte, der Eitelkeit sei Dank, auch ein Timm Ulrichs in der Kunstwelt reüssieren, und selbstverständlich wird es ein Timm Ulrichs dem Schicksal auch verargen, dass ein ungefährer Altersgenosse wie Gerhard Richter den Kunstolymp erklimmen konnte, während er doch im Basislager verbleiben musste (wofür er selbst die Metapher „in der zweiten Liga spielen“ gebraucht), aber unter den damals wie erst recht heute herrschenden Bedingungen der Kommerzialisierung, der gezielten Güterverknappung, der Zugangsbeschränkung zum Kunstmarkt etc. zeigte sich Ulrichs, der allgemein als leicht störrisch oder, etwas weniger pejorativ, als Mann von festen Prinzipien gilt, eben zu keinen Kompromissen bereit. Und natürlich dürfen auch in einer Retrospektive wie dieser die ulrichschen Klassiker der Kunstbetriebskritik nicht fehlen, wie etwa das heimlich von ihm aufgenommene Foto, wie er sich, in einer Glasvitrine sitzend, 1965 der Berliner „Juryfreien Kunstausstellung“ als „erstes lebendes Kunstwerk“ andient, dann aber doch mit der Begründung ausjuriert wird, „nicht vollständig von Hand hergestellt zu sein“; oder ein Foto davon, wie sich Ulrichs, staffiert mit einer dunklen Brille, einer gelben Armbinde, einem Blindenstock sowie einem Schild mit dem Schriftzug: „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ 1975 über die Art Cologne führen ließ.

Als eine aktuelle Kritik am Betrieb und als eine weitere Besonderheit dieser Ausstellung kann freilich auch ihr streng formalisiertes Konzept selbst verstanden werden, das zu Beginn einen vollkommen leeren Raum vorsah, der an jedem der kommenden 100 Tage – exklusive der leidigen Corona-Pause – mit einem von je einem Autor ausgewählten und kommentierten Werk bestückt werden sollte. Wodurch hier nicht nur ein demokratisches Prinzip gegen die zunehmende Autorität der Kuratoren in Stellung gebracht wird, deren bloße Reputation ja mittlerweile bereits das Wohl einer Schau entscheidend beeinflussen kann (und dabei sollte auch die Laufzeit von 100 Tagen als ironische Referenz auf die Großschau schlechthin, die documenta, unbedingt mitbedacht werden), sondern sich darüber hinaus die Gelegenheit bietet, gleich zwei Phänomene zu beobachten: erstens die Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst (Arnold Gehlen), da die Texte der 100 Autoren sich an der Stirnwand der Galerie sammeln und so in seltener Eindringlichkeit vor Augen führen, dass zum Verständnis der Werke heute neben die Anschauung auch unabdingbar die begriffliche Reflexion zu treten hat; und zweitens macht womöglich erst die allmähliche Füllung des Raums und die damit einhergehende Petersburger Hängung der Arbeiten (in allen erdenklichen Genres: Foto, Film, Text, Performance, Skulptur ...) einen Überfluss erfahrbar, der vielleicht das Fazit erlaubt: Ziemlich sicher hat die Kunst Timm Ulrichs nicht reich gemacht, aber ganz gewiss hat Timm Ulrichs die Kunst ungemein bereichert. Aber nicht nur die Kunst, sondern auch andere Künstler, sodass sich Kasper König einst bemüßigt sah, folgendes – nicht nur nett gemeintes – Bonmot über diesen klassischen artists’ artist in die Welt zu setzen: „Taucht irgendwo eine gute Idee auf, kommt Timm Ulrichs um die Ecke und behauptet, sie schon Jahre vorher gehabt zu haben.“

Mehr Texte von Peter Kunitzky

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Timm Ulrichs - Ich, Gott & die Welt |100 Tage – 100 Werke – 100 Autoren
07.03 - 02.08.2020

Haus am Lützowplatz
10785 Berlin, Lützowplatz 9
Tel: +49 0 30 261 38 05, Fax: +49 0 30 264 47 13
Email: office@hal-berlin.de
https://www.hal-berlin.de/
Öffnungszeiten: Di - So: 11 - 18 Uhr


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